Es ist davon auszugehen, dass die Familie von Johann Georg Grün in relativ bescheidenen Verhältnissen lebte. Die Gruens konnten als Vollwaisen mit keiner große Erbschaft rechnen. Der Beruf des Schuhmachers war zwar ehrbar, konnte aber die Familie in der damaligen Zeit nur notdürftig ernähren.
Hinzu kamen die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse: Nachdem im Jahr 1840 der Erreger der Kartoffelfäule aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt worden war, folgten mehrere schwere Hungersnöten in Europa.[1] Am schlimmsten traf es Irland, wo es zwischen 1845 und 1852 zur sogenannten „Großen Hungersnot“ (engl. „Great Famine“)[2] kam. Aber auch in Deutschland führten mehrere Missernten zu Revolten und 1847 zur sogenannten Kartoffelrevolution in Berlin.[3] In Osthofen sah sich die Gemeinde im Jahr 1847 genötigt, vom Staat 150 Malter Korn aus der Ernte 1846 zu kaufen, es vermahlen zu lassen und davon 7618 Laib Brot zu backen. Dieses wurde zur Linderung der schlimmsten Not an die ärmere Bevölkerung für 17 statt der üblichen 25 Kreuzer verkauft.[4]
Erschwert wurde die Lage durch die aufkommende industrielle Revolution, die viele Handwerker arbeitslos und die Industriearbeiter zu billigen Tagelöhnern machte. Es entstand ein Industrieproletariat, das unterstützt durch intellektuelle Vordenker zunehmend unzufrieden wurde und gegen die herrschenden Verhältnisse rebellierte. Am bekanntesten ist hier sicherlich der schlesische Weberaufstand von 1844, der als Vorbote der deutschen Revolution von 1848/1849, auch Märzrevolution genannt, gelten kann.
In Osthofen kündigte sich die industrielle Revolution zunächst durch den Bau von Straßen (die erste führte 1840/42 nach Westhofen und zum Rhein) und der Eisenbahnstrecke Mainz-Worms mit Eröffnung des Haltepunkts Osthofen im August 1853 an. Die verbesserte Infrastruktur schaffte die Möglichkeit der Errichtung von Industriebetrieben, wie beispielsweise die Maschinenfabriken Keller und Klein in den Jahren 1855 und 1857, die Mälzerei Schill im Jahr 1859 und die Kartoffelzuckerfabrik Best (später Dr. Wander GmbH, heute Nestlé Health Care Nutrition) im Jahr 1860.[5]
Im benachbarten Worms etablierte sich die Lederindustrie durch Ausbau der Lederfabriken „Cornelius Heyl AG“ (gegr. 1834) und „Doerr & Reinhart“ (gegr. 1840). Dennoch reichten die neu geschaffenen Arbeitsplätze nicht aus, das entstehende Industrieproletariat ausreichend zu versorgen.[6]
In der Folge suchten insbesondere die ärmeren Schichten ihr Heil in der Auswanderung. So auch in Osthofen. Die Auswanderungswelle dauerte von ca. 1849 bis 1861. Höhepunkt war das Jahr 1853 als alleine 146 Männer, Frauen und Kinder, davon 76 mit und 70 ohne Genehmigung der Behörden aus Osthofen weggingen. Das waren alleine in diesem Jahr rund 7% der Bevölkerung.[7]
Beflügelt wurde die Auswanderung vor allem in die USA durch Berichte über große Goldfunde. Spieler, Hazardeure und Abenteurer zog es aufgrund von Berichten, nach denen arme Landarbeiter über Nacht zum Millionär wurden, in Scharen zu den vermeintlichen Goldlagerstätten. Nach Goldfunden am Sacramento River und im America River nahe San Franciso im Jahr 1848 sorgte insbesondere der kalifornische Goldrausch zu einer neuen Einwanderungswelle nach Amerika.[8]
Auch alle vier Söhne und die jüngste Tochter von Johann Georg Grün wanderten in die USA aus. Nur die älteste Tochter verblieb in Deutschland und übernahm mit ihrem Mann das Schuhmachergeschäft der Eltern. Nach Ihrem Tod wurde sie auf dem Bergfriedhof in Osthofen beerdigt, wo ihr Grabstein noch heute zu finden ist.
Während die drei ältesten Söhne Georg, Johann und Jakob bereits früh emigrierten, beendte der jüngste, Dietrich, erst seine Ausbildung.
1867, im Alter von 20 Jahren folgte er dann einer Einladung seiner beiden Brüder Johann und Jakob nach St. Louis, Missouri. Der älteste Bruder Georg war bereits 1863 im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) gefallen.[9] Die älteren Brüder waren im Weinhandel tätig und handelten unter anderem mit Wein aus ihrer rheinhessischen Heimat.
Deutscher Wein hatte in Amerika zu jener Zeit nicht nur unter Auswanderern einen guten Ruf. Meist wurde deutscher Weisswein mit dem Namen Liebfrauenmilch (oder engl. Liebfraumilch) assoziiert. Dieser Wein kam ursprünglich von den Weinbergen rund um die Liebfrauenkirche in Worms, die nur wenige Kilometer von Osthofen entfernt liegt. Es ist anzunehmen, dass auch die Gruens diesen Wein in den USA vermarkteten. Da der Begriff aber nicht geschützt war, wurden später auch die Weine aus anderen deutschen Regionen mit diesem Namen bedacht und der Markenname verkam zu einem Sammelbegriff für meist günstigen und süßen deutschen Weißwein.
Die Familie änderte mit der Übersiedlung in die USA auch die Schreibweise ihres Namens. Da in der englischen Sprache Umlaute unbekannt sind, wurde aus „Grün“ die Schreibweise „Gruen“ mit der Folge, dass sich auch die Aussprache in – Gru-en – wandelte.
[1] NN: Wikipedia, Phytophthora infestans
[2] NN: Wikipedia, Große Hungersnot in Irland
[3] NN: Wikipedia, Kartoffelrevolution
[4] Wechsler, Bert: 1200 Jahre Osthofen, S. 178, herausgegeben von der Stadtverwaltung Osthofen, Juli 1984
[5] Konrad, Walter und Traudl: Osthofener Geschichten, S. 25 ff., 1998, Selbstverlag
[6] Götzen, Johannes, Erinnerung an Lederindustrie in Worms, Wormser Zeitung 25.10.2012
[7] Konrad, Walter: 1200 Jahre Osthofen, S. 180, herausgegeben von der Stadtverwaltung Osthofen, Juli 1984
[8] NN: Wikipedia; Goldrausch
[9] Schliesser, Paul, Gruen –The Art & Mystery of Watchmaking, 1998-2001, http://www.pixelp.com
[a] zeitgenössische Zeichnung der Bridget O’Donnel und ihrer Kinder, Quelle: Illustrated London News 1849
[b] Lederproduktion bei Doerr & Reinhart, Worms, um 1900, Quelle: http://www.wormser-lederindustrie.de, 9.6.2014
[c] Susanne Margarethe Brückman, geb. Grün, Schwester von Dietrich Gruen, Grabstein auf dem Bergfriedhof in Osthofen, Foto: Peter Schill
[d] Liebfrauenkirche in Worms mit den berühmten Weinbergen zur Produktion der „Liebfraumilch“, Quelle: http://www.wikipedia.org/wiki/Datei:Worms_Liebfrauen.jpg
[e] Brief an Jacob Gruen von seinem Vetter Simon Friedrich Schill, Osthofen, über den gemeinsamen Weinhandel, September 1872, Quelle. Kopierbuch des S.F.Schill im Familienbesitz, Foto: Peter Schill